DIE ANNA
(Familie Seidl mit der kleinen "Nanni" um 1904)
Anna, die letzte „Wolfschneiderin“
Sie starb im Alter von 81 Jahren am 1. April 1982 an den Folgen eines Verkehrsunfalls direkt vor ihrer Haustüre.
Anna war auf der Münchner Straße in ein Auto gelaufen, dessen Fahrer die Kurve beim Pfarrhof vermutlich etwas zu schnell genommen hatte, so dass er nicht mehr bremsen konnte. Auch war Anna verständlicher Weise nicht mehr die Schnellste und sehen konnte sie wohl auch nicht mehr so gut.
Ihre Verletzungen waren eigentlich nicht lebensbedrohlich, aber ihre Angst in diesem großen fremden Haus, in das man sie fuhr und in dem sie dann ärztlich versorgt mit anderen fremden Frauen in einem Zimmer im Bett lag, nicht aufstehen konnte und durfte, das alles hat sie nicht überlebt.
Ihr gesamtes Leben hatte Anna im Wolfschneiderhof verbracht. Zunächst mit ihrer Mutter, deren Schwester und deren Bruder. Besonders in den letzten 20 Jahren, die sie nach dem Tod ihres Onkels Johann Seidl am 13. Januar 1962 allein mit ihren Katzen und Hühnern in dem kleinen bäuerlichen Anwesen zugebracht hatte, war sie anderen Menschen gegenüber sehr misstrauisch. Zeitzeugen berichteten sogar, Anna sei manchmal aggressiv geworden, wenn sie sich bedroht fühlte.
Da Anna Seidl als geistig behindert galt, hatte sie einen benachbarten Landwirt als Vormund, der den landwirtschaftlichen Grund ihres Anwesens für sie verpachtet hatte, wovon sie sehr bescheiden lebte. Sie konnte sich bis zuletzt selbst versorgen. Ältere Taufkirchner berichteten, dass die Anna stets sauber, wenn auch einfach gekleidet war und auch ihr Hauswesen in Ordnung hielt. Sie verkaufte die Eier ihrer Hühner, die sie noch hielt, um sich damit etwas hinzuzuverdienen. Was sie selbst zum Leben brauchte, besorgte ihr nach Zeitzeugenberichten der Stumpf Ted, der einen kleinen Lebensmittelladen an der Münchner Straße betrieb. Später kaufte sie dann auch beim Penny am Köglweg ein. Sonst hatte die Anna wohl mit niemand Kontakt, was dazu führte, dass sie Selbstgespräche führte oder mit ihren Tieren sprach.
Ihr auffälliges Verhalten war wohl die Folge einer zu lang erduldeten Ausgrenzung, die sie seit ihrer Kindheit erfahren hatte. Sie wurde am 5. November 1900 als lediges Kind geboren und hatte von ihrer Mutter Maria Seidl nach den Erzählungen älterer Taufkirchner später stets zu hören bekommen: „I häd heiratn kena, wennst hoit Du net do gwesen warst.“
Diese ungerechtfertigte Anklage hatte Anna auf die Dauer wohl seelisch sehr belastet, weil sie ja nichts dafür konnte, dass es sie gab. Dabei war sie durchaus intelligent und zeigte offensichtlich ein durchaus positives Verhalten, wie ihr Entlassungszeugnis der Volksfortbildungsschule vom 30. April 1916 beweist. Darin wird ihr bestätigt, dass sie den Unterricht „mit hervorzuhebendem Fleisse besucht“ und „ein sehr lobenswürdiges Betragen gepflogen“ hat. In fast allen Fächern wurde sie bei 4 Notenstufen mit der Note 1½ , das ist „fast sehr gut“ bewertet. Lediglich im Aufsatz hatte sie eine "Zwei". Interessant ist dabei noch, dass dieses Zeugnis neben der Lehrerin auch der Königliche Schulinspektor Ferdinand Buchwieser unterschrieben hat, Taufkirchens erster Pfarrer.
Wie das Diözesanarchiv von München und Freising 2014 ausführte, war ihr Vater ein „Ökonomensohn“, ein angesehener und begüterter Landwirtssohn, den ihre Mutter mangels einer entsprechenden Mitgift nicht heiraten konnte. Ob die „Nanni“, wie Anna in ihren jungen Jahren auch gerufen wurde, jemals von ihrem Vater erfahren hatte, darf bezweifelt werden.
So kann man heute bei einem Besuch im Wolfschneiderhof auch den Spuren der äußerst bescheidenen Lebensverhältnisse der früheren Bewohner nachgehen. Der Werdegang der Familie Seidl ist auch ein Abbild der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse. Die krassen Gegensätze, die damals in der Bevölkerung herrschten, kann man auch anhand der Lage der ärmlichen „Sölde“ direkt neben dem stattlichen Pfarrhof gut nachvollziehen.
Entnommen den Erinnerungen des ehemaligen Gemeindeheimatpflegers Peter Seebauer.
Michael Müller
Gemeindeheimatpfleger
Dezember 2021
Hinweis: Die vom Förderverein „Freunde des Wolfschneiderhofes“ initiierten beiden lebensgroßen Holzfiguren vor dem Anwesen sollen an Johann und Anna Seidl, die letzten Bewohner des heutigen Heimathauses, erinnern.
Grabmal der Familie Seidl auf dem Pfarrfriedhof St. Johannes, 1988.